Die Rolle der Religion für die tschechische Identität
Jiri Silny
Die tschechische Gesellschaft ist eine der am meisten säkularisierten, am wenigsten religiösen der Welt. Es gilt vor allem für Böhmen – im Mähren ist es schon anders, und die Lage in der Slowakei unterscheidet sich schon sehr deutlich. Das belegen die Statistik ebenso wie die Kultur und Politik der letzten Jahrzehnte.
Eine bestimmte Parallele können wir vielleicht in den neuen Bundesländern finden: In der ehemaligen DDR sowie in anderen postkommunistischen Ländern wurde – auch trotz der Zeit der Beschränkung des religiösen Lebens und der Verfolgung der Gläubigen – eine bestimmte Kontinuität der religiösen Kultur durchgezogen, und diese Länder konnten diese Traditionen auch leichter erneuern.
Sehr bemerkenswert ist der Vergleich mit Polen, wo die Religion, durch die römischkatholische Kirche vermittelt, eine weit größere Rolle spielt als in Tschechien, auch wenn die beiden Länder eigentlich eine sehr ähnliche Geschichte hatten. Aber während die Verbindung zwischen der Religion und der polnischen Identität anschaulich ist, sieht es bei den Tschechen fast ganz umgekehrt aus.
Das erweckt die Frage, inwieweit die tschechische Identität eigentlich mit dem eher negativen Verhältnis zur Religion verbunden ist. Das gilt anschaulich dann, wenn wir die Religion in Verbindung mit den traditionellen christlichen Institutionen sehen, mit dem Klerikalismus, mit der mächtigen Stellung der Religion. In der tschechischen Geschichte war die Form der Religion oft kontrovers. Sie war immer wieder Gegenstand des Streites und der Untersuchung, was sich eigentlich hinter den Worten und hinter den Riten (Zeremonien) verberge, was für eine Wirkung die Religion für das konkrete Leben der Menschen habe, einschließlich der politischen und sozialen Aspekte. Wenn diese tschechische Haltung ein biblischer Zitat ausdrücken soll, dann ist es das Wort Jesu: Ihr erkennt sie nach den Früchten.
Den anderen Überlegungen muß man vorausschicken, daß wenn wir über Religion sprechen, also arbeiten wir mit keiner Definition. Es gibt keine allgemein angenommene Definition der Religion. Es gibt viele Definitionen, die verschiedene Aspekte dieses Phänomenes beschreiben. In einem bestimmten Maße kann man sagen, daß die Religion gerade das ist, wofür wir sie halten. Für unseren Zweck reicht aus, daß ein wichtiger Aspekt der Religion die Bemühung um Ganzheit ist, Totalität, sie ist holistisch – sie will eine bestimmte Erklärung der Welt anbieten, und gleichzeitig beansprucht sie den ganzen Menschen – das Denken, das Fühlen sowie das praktische Handeln und die Form des menschlichen Zusammenlebens. Dabei muß man beachten, daß die Religion ein ambivalentes Phänomen ist – sie kann sowohl positiv als auch destruktiv wirken, und sogar – in der Form – die gleiche Religion in verschiedenen geschichtlichen Situationen.
Für das Verständnis der heutigen Form der tschechischen Religiosität können wir nicht eine vereinfachte historische Skizzierung vermeiden, die gerade die Nicht- Selbstverständlichkeit der konkreten Form der Religion unterstreicht.
Von der slawischen vorchristlichen Religion wissen wir nicht viel mehr, als daß manche ihrer Aspekte als Volkssitten auf dem Land verblieben sind, weil die tschechische Gesellschaft bis zur 19. Jh. überwiegend ländlich war. Symptomatisch: Was die Folklore anbelangt, wurde sie in der authentischen Form bis heute nur in Mähren beibehalten.
Was wir aber mit einer historischen Sicherheit wissen, ist, daß schon am Anfang der Christianisierung unseres Landes ein Konflikt steht – das Christentum ist in Böhmen, in Mähren und der Slowakei von zwei Richtungen hereingekommen: Aus Rom, durch die Vermittlung der bayerischen Bischöfe sowie durch die Priester aus Byzanz, vor allem durch das Wirken der slawischen Apostel Kyril und Method – da sprechen wir von der 1. Hälfte der 9. Jh. Es erscheinen auch die Anmerkungen von einer dritten Richtung, der irisch-schottischen Mission, die – wenn es sie wirklich gab – nicht mit Macht-Ambitionen verbunden war und deshalb eine erste Zeitansage des alternativen Christentums geben konnte, das später in Tschechien so reichlich vorkam.
Aber zuerst überwog der Einfluß vom Westen, der römisch-katholischen Kirche, und dadurch auch der Einfluß des Deutschen Reiches. Trotzdem ist es gelungen, die Unabhängigkeit des tschechischen Königstums im Rahmen des Reiches zu bewahren, sowie auch manche Aspekte und das Bewußtsein einer unterschiedlichen Tradition des christlichen Ostens, die immer wieder eine Rolle als gedachte oder auch reale Alternative gespielt hat, vor allem dann, wenn es um Widerstand gegen den römischen Katholizismus und gegen die Germanisierung ging.
Die Kontakte mit der Orthodoxie haben die Hussiten gesucht, genauso wir ihre neuzeitlichen Nachfolger in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Es bietet sich ein Vergleich mit Polen an: Die Tschechen haben ihre schlechte Erfahrungen mit Rußland erst in der Zeit des Stalinismus gemacht, in den fünfziger Jahren und im Jahre 1968. Bis zu dieser Zeit war Rußland eher ein Gegenstand der Hoffnungen und die Orthodoxie hat eine slawische Alternative dargestellt. In der realen Begegnung mit diesem Typ der Religion ist aber herausgekommen, daß sie mit der tschechischen pragmatischen und skeptischen Kultur noch viel weniger korrespondiert als der römische Katholizismus. Deshalb hat sich die Orthodoxie nicht weit verbreitet. Sie hat aber immer wieder eine Rolle in politischen Kämpfen gespielt, vor allem in der Zeit der nazistischen Okkupation als eines der Widerstandszentren.
Laßt uns aber in das 14. Jh. zurückkommen. Damals war Tschechien am Zenit seiner Macht – es war reich dank der Förderung von Silber. Es war bedeutsam als Sitz der Kaiser, mit einer erhabenen Kultur und mit der bemerkenswerten Person eines außergewöhnlich gebildeten und außergewöhnlich frommen Königs, des Kaisers Karls IV.
Zu seinen bemerkenswerten Charakteren gehörte auch, daß er versuchte, die Reform- und Erneuerungsbemühungen im Rahmen der römischen Kirche zu unterstützen, als ihre Krise der Identität und der Glaubwürdigkeit schon allgeme bekannt war – die Machtinteressen, die Ansammlung des Reichtums, die Unmoral ihrer Vorstehenden haben ihre eigene Sendung in Schatten verborgen. Karl IV. hat Freiheit und Raum den kritischen Predigern geschenkt, wie Konrad Waldhauser, Matej aus Janov, Jan Milic aus Kreims, der einmal so weit gegangen ist, daß er sogar den Kaiser als Antichrist bezeichnet hat. Dem Verbrennen als Ketzer ist er wahrscheinlich nur dadurch entkommen, daß er rechtzeitlich genug gestorben ist.
Tschechien wurde allmählich ein Brennpunkt des Kampfes um die Erneuerung der Kirche, in dem es neben der Religion selbstverständlich auch um die Macht und die ökonomischen Interesse des Kaisers, der Adligen, der erstrkten Schicht der Stadtbewohner, der Landbevölkerung, der Universitätsintellektuellen, der Tschechen und Deutschen ging.
Auswirkung dieses Kampfes waren die hussitischen Kriege. Trotz allen Verwirrungen und Grausamkeiten des Bürgerkrieges und der Verteidigungskriege gegen die Reihe der Kreuzkriege des vereinigten katholischen Europa, die alle niedergeschlagen wurden, und trotz der inneren Kämpfe zwischen den unterschiedlichen Flügeln der Hussiten ist die hussitische Bewegung ein einzigartiges Experiment der kirchlichen Erneuerung, der um ein Jahrhundert die westliche Reformation überholt hat.
Meister Johannes Hus war kein origineller Denker, er hat eigentlich nur die Kritik an der Kirche durch seine Vorfahren weitergeführt, vor allem die des Engländer Johannes Wickleff. Aber Hus war konsequent. Die Debatten über die Kirchen- und Gesellschaftsreform hat er nicht nur in den Universitätskreisen geführt – er predigte über die Herstellung der neuen Verhältnisse auf eine verständliche Weise auch den normalen Menschen, und seine Lehre fand großen Anklang. Umsomehr, weil er dafür sein Leben auf dem Scheiterhaufen in Konstanz geopfert hat.
Auf der gesellschaftlichen Ebene wollte er, daß nicht nur die Kirche allein, sondern auch die Gesellschaft sich nach den Regeln des Evangeliums richten würde – und das war damals ein genauso revolutionärer Anspruch wie heute. Seine Lehre hatte eine existenzielle Dimension – er ist also ein Märtyrer bei der Verteidigung der Wahrheit geworden, die er als absolut verbindlich wahrgenommen hat. Als eine der ersten wirklich modernen Persönlichkeiten hat er sein Gewissen der Autorität äußerer Macht übergeordnet. Als ihn sein einstiger Freund aus der Universität, Palec, dazu anstiftete, seine Lehre zu widerrufen, um sich vorm Tod auf dem Scheiterhaufen zu retten, war seine Antwort: Palec ist mein Freund, aber die Wahrheit ist meine größere Freundin.
Diese Tradition der Verbindlichkeit der Wahrheit, die im Extremfall auch ein Lebensopfer beansprucht, verbleibt irgendwie immer wieder im tschechischen Bewußtsein. Wir haben auf die Präsidentenflagge geschrieben: Die Wahrheit siegt! Die Tschechen, von der Geschichte belehrt, fügen hinzu: Manchmal! Im Geiste der Verbindlichkeit der Wahrheit wirkte der erste Präsident der Tschechoslowakei, von dem man die folgende Geschichte erzählt: Als er bei den Straßenkämpfen in Rußland Zuflucht suchte in einem Hotel und von der anderen Seite der verschlossenen Tür gefragt wurde, ob er im Hotel untergebracht sei, hat er wahrheitsgemäß geantwortet: Nein; obwohl er riskiert hat, daß er nicht hineingelassen würde und auf der Straße erschossen wird.
Ein Essay des ehemaligen Präsidenten Vaclav Havel, der wegen seiner Überzeugung mehrmals gefangengenommen wurde, steht in der gleichen Tradition; er heißt: „Das Leben in der Wahrheit„. Der Student Jan Palach hat sich selbst verbrannt als Protest gegen die Lüge. Der Philosoph Jan Patocka, der sich für die Freiheit der Äußerung eingesetzt hat, ist nach einem erschöpfenden Verhör bei der Geheimpolizei gestorben. Es scheint, daß erst der vulgarisierte Postmodernismus dieses Bewußtsein von Wahrheit, die verbindlich ist, mit Erfolg auslöscht. Das ist vielleicht ein gutes Thema für die Diskussion.
Hus ist so eine prägende Person, daß auch die katholische Kirche ihn letzlich Schritt für Schritt rehabilitiert, wobei sie natürlich nicht so weit gehen kann, daß sie seine Lehre anerkennen würde. Aber die hussitische Bewegung war nicht nur Hus. Hinter ihm stand ein großer Teil der Prager Universität, einer der ältesten in Europa. Es war der geniale Stratege Jan Zizka mit seinem Heer der Volkssoldaten, ohne dem die Reform schon im Anfang erstickt worden wäre. Aber es war auch der radikale Pazifist Chelcicky, der Tolstoj und Ghandi inspiriert hat. Seine Schüler haben eine der bemerkenswerten Reformationskirchen gegründet – die Brüderunität, dank der die tschechische Kralitzer Bibel die fünfte Übersetzung aus den originelen Sprachen auf der Welt ist.
Die bekannteste Person der Brüderunität ist Jan Amos Comenius, der geniale Pädagoge, Philosoph und Theologe, der ein unwahrscheinlich schwieriges Schicksal hatte. Im hussitischen Tschechien haben ihre Zuflucht auch die verfolgten Waldenser oder die Wiedertäufer gefunden. Freundliche Beziehungen herrschten mit den Lutheranen und Reformierten. Dem hussitischen König Georg aus Podebrady ist es gelungen, im Lande, das in Religionskonflikten steckte, einen gerechten Frieden zu stiften. Er war der Vater des Gedankens eines Friedensvertrags zwischen den europäischen Nationen, der eigentlich erst heute im Rahmen der EU zur Wirklichkeit wird.
Es geht aber nicht nur um große Namen – die hussitische Bewegung wurde zur Inspiration der nationalen Erneuerung (in 19. Jh.), der Rettung der tschechischen Kultur und Sprache, sowohl bei der Entstehung der Tschechoslowakei als auch in ihrer tödlichen Bedrohung durch Hitler.
Noch unter der Herrschaft der katholischen Habsburger im 16. Jh. sind Dinge gelungen, die nirgendwo anders in Europa möglich waren. Die gemeinsame Böhmische Konfession galt für die hussitische Kirche (die Utraquisten), für die Brüderunität und für die Lutheraner. Und die Stände haben den Kaiser Rudolf II. im Jahre 1609 zur Unterzeichnung des sog. Rudolf-Majestätes gezwungen. Er gab eine Garantie der Religionsfreiheit: Alle, auch die Untertanen, durften ihren Glauben selbst auswählen. Dagegen führte der Dreißigjährige Krieg nur zu armen Ergebnissen, genauso wie schon der Augsburger Frieden aus dem Jahre 1555: Wer regiert, entscheidet die Religionszugehörigkeit für alle seine Untertanen.
Für die Tschechen bedeutete der Dreißigjährige Krieg eine Katastrophe. Wie in anderen europäischen Ländern auch, ist dabei ein Drittel der Bevölkerung umgekommen. Aber dazu kam noch eine der härtesten Rekatholisierungen, schon in der Zeit des Krieges. Zu Beginn des Krieges war 80 bis 90 Prozent der böhmischen Bevölkerung nicht-katholischen Bekenntnisses. Nach der Schlacht am Weißen Berg folgte eine bis dahin bei uns unbekannt grausame, gemeinsame Hinrichtung der Vertreter der Stände – der Aufstandsanführer. Dann kam die erste Emigrationswelle in der tschechischen Geschichte. Die nicht wegziehen konnten oder wollten, wurden gezwungen, sich der katholischen Kirche unterzuordnen. 160 Jahre lang durfte keine andere Kirche existieren als nur die römisch-katholische, und auch später nur sehr begrenzt.
Gleichzeitig mit der Rekatholisierung verlor der tschechische Staat seine Souveränität und wurde allmählich germanisiert. Diese historische Erfahrung zeigt das Grundtrauma der tschechischen Gesellschaft, was ihr Verhältnis zur Religion anbelangt. Der barocke Katholizismus hat zwar nach Tschechien unstreitig große kulturelle Werte gebracht, in Architektur, Malerei oder Musik, aber er hat Werte bedroht, die für die Kultur viel wichtiger sind: Wahrheit und Freiheit.
Das religiöse Bewußtsein steht gewöhnlich im engen Zusammenhang mit dem Verständnis der eigenen Geschichte. Für die Wiederentdeckung der Identität des tschechischen Volk ist von entscheidender Bedeutung das Werk des evangelischen Historikers Palacky, der am Anfang des 19. Jh. für die Tschechen die hussitische Bewegung entdeckt hat. Interessant ist, das Palacky diese Bewegung nicht von der Religion her betrachtet, sondern daß er sie vor allem als einen Emanzipationskampf um Demokratie und Freiheit des Denkens und die gesellschaftliche Freiheit versteht. Das heißt: nicht irgendeine, sondern eine fortschrittliche Religion! Allerdings, heute gehört der Ausdruck schon in ein veraltetes Lexikon. Wer heute noch an Fortschritt glaubt: Erheben Sie bitte Ihre Hand!
In der tschechischen Geschichte gab es bis zu dieser Zeit aber auch katholische Denker, die sich um die Wiederherstellung eines guten Verhältnisses in der Kirche und in der Gesellschaft bemüht haben. Sie verstanden die Religion in der Regel im rationellen Sinn, wie z.B. der bedeutende Philosoph und Mathematiker Bernard Bolzano, der mit seiner Tätigkeit an der Universität aufhören mußte, oder Augustin Smetana, ein Philosoph und Priester, der aus der Kirche exkommuniziert wurde.
Am Ende des 19. Jh. formierte sich, wie in anderen europäischen Ländern, auch bei uns eine Bewegung der katholischen Modernisten, die vor allem im kulturellen Bereich tätig waren und sich auch um eine Reform der Kirche und des kirchlichen Bildungssystems bemüht haben. Am Anfang des 20. Jh. wurde diese Bewegung leider von der Kirche hart unterdrückt. In Tschechien kam es nach ersten Weltkrieg zu einer großen Kirchenaustrittswelle – die Kirche wurde in einem engen Zusammenhang mit der österreichischen Macht, mit der Germanisierung, mit dem politischen Druck und mit Rückschrittlichkeit wahrgenommen.
Viele haben den christlichen Glauben ganz verlassen, aber ein großer Teil ist in die neugegründete Tschechoslowakische Kirche (heute: Tschechoslowakisch-Hussitische Kirche) übergetreten, die durch einige reformorientierte katholische Priester gegründet wurde, unter der Leitung von Karel Farsky. Sie hat sich zum Erbe des Johannes Hus bekannt und während der ersten zwanzig Jahre ihrer Existenz eine Million Mitglieder gewonnen. Zu den bemerkenswerten Seiten der tschechischen Kirchengeschichte gehört die Tatsache, daß die heutige Mitgliederzahl dieser Kirche nur etwa 100 000 beträgt. Viele ehemalige Katholiken traten auch in die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder ein.
T.G. Masaryk, der erste Präsident der Tschechoslowakischen Republik, hat eine wichtige Rolle nicht nur in der Politik, Philosophie und Soziologie, sondern auch im Religionsdenken gespielt. Ursprünglich war er Katholik, später ein Mitglied der evangelischen Kirche, aber nicht praktizierend.
Er war ein antiklerikaler, pragmatischer Philosoph, aber hatte eine eigene persönliche Religionserfahrung. Es ist verwunderlich, aber als er den Sinn der tschechischen Geschichte (sein Werk heißt: „Tschechische Frage„) betrachtet hat, ist er zu der Meinung gekommen, daß es um eine Religionsfrage geht. Die Religion hat er vor allem als Praxis, Entscheidung und Arbeit, inneres Leben und Ethik verstanden. Er hat sich wieder vor allem für die Früchte der Religion interessiert. Nur die wenigsten haben den Sinn des Evangeliums so prägnant ausgedrückt wie er mit seinem: Jesus, nicht Caesar!
Dieser Ansicht stand auch die damalige typische, protestantische, liberale Theologie nahe, die bei den tschechischen Protestanten Anklang gefunden hat, aber vor allem in der Tschechoslowakischen Kirche. In dieser Tradition steht auch die Rezeption von Dietrich Bonhoeffer, des Theologen der nicht-religiösen Interpretation des Evangeliums, und von anderen in den genannten Kirchen – auch in den sechziger Jahren und später, auch wenn hier der Einfluß der dialektischen Theologie von Karl Barth und seinen Genossen überwog.
Neben denen, die eine Alternative neben dem diskreditierten Katholizismus in anderen Kirchen gesucht haben, gab es in der neuen Republik auch viele, die viel radikaler waren und die sich von der Kirche ganz und gar verabschiedet haben. Manche sind auch gegen die Kirche aktiv aufgetreten: eine starke Bewegung „Freier Gedanke„, die Anarchisten mit so ausgeprägten Persönlichkeiten wie Jaroslav Hašek, S.K. Neumann, und später die Kommunisten.
Die Arbeiterbewegung hatte hier, wahrscheinlich noch mehr als in anderen Ländern, infolge der peinlichen Ignoranz der Kirche gegenüber der Lage der Arbeiter im 19. Jh., überwiegend einen radikalen antikirchlichen Charakter. Einen bestimmten Einfluß hatten in Tschechien die religiösen Sozialisten wie Kutter und Ragaz. Bei uns gehörten zu ihnen der evangelische Theloge Linhart oder Hnik aus der Tschechoslowakischen Kirche, aber auch ihnen ist es nicht gelungen, in einem breiteren Maße die Arbeiterschicht anzusprechen.
Die Tatsache, daß sich die Kirchen, noch in der Zeit, als sie einen großen Einfluß und Macht hatten, nicht auf die Seite der ausgebeuteten Arbeiter gestellt haben, ist meiner Meinung nach einer der Schicksalsfehler der europäischen Geschichte, der zu einer fatalen Schwächung der Kirchen führte, aber indirekt auch zur Entwicklung der radikalen Bewegungen – von Kommunismus und später Nazismus. Doppelt beschämend ist, wie gut die Kirchen mehrheitlich mit diesem Regime übereinstimmten – die katholische Kirche in Spanien, Portugal und Italien, in der Slowakei, die evangelische Kirche in Deutschland.
Es ist offenbar kein Zufall, daß in der Tschechoslowakei zwischen den zwei Weltkriegen als Regel galt: Je schwächer die Kirchen waren, desto stärker die radikalen Linken. Bei dem deutschen Teil der Bevölkerung gab es nach dem Ausbruch der ökonomischen Krise umgekehrt ein stärkende Einfluß des Nazismus und Nationalsozialismus.
Auch die entstehende internationale ökumenische Bewegung, die in Tschechien bedeutsame Anhänger hatte, wie z.B. Professor Hromadka war, konnte trotz ihrer Friedensbemühungen die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges nicht vermeiden.
Das führte dazu, daß die Tschechoslowakei letztendlich das einzige Land war, wo die Kommunistische Partei zur Macht dadurch kam, daß sie bei der politischen Wahl 1946 gewonnen hat. Andererseits existierte in der Tschechoslowakei eine härtere antikirchliche Politik als in den vergleichbaren Ländern, weil es sich das stalinistische Regime infolge der Schwäche der Kirchen leisten konnte.
Das gewaltvolle Auflösen der Klöster, die Internierung von Tausenden Geistlichen, unter denen viele die Haft nicht überlebten, die Enteignung der kirchlichen Güter hat vor allem die römisch-katholische Kirche betroffen. Aber eine negative Folge hatte diese Politik auf jeden Fall für alle Kirchen. Und auch wenn nach der Zeit der harten Unterdrückung der Kirchen ein Zeitabschnitt der „bloßen„ Beschränkung der kirchlichen Tätigkeit verschiedener Intensität kam, hatte diese Politik in dem religiös lauen Milieu einen größeren Erfolg als in den vergleichbaren Ländern.
Dabei war eine große Reihe der Gläubigen nicht apriori sozialismusfeindlich. Aber auch in der Entwicklung nach dem zweiten Krieg finden wir einen Zeitabschnitt, der der Vorstellung von Tschechien als einer Religionswüste widerspricht. Es waren die sechziger Jahre, die mit einem ernstgemeinten Kampf um die Demokratisierung des Sozialismus verbunden waren - auch wenn es heute umstritten ist. Die tschechischen Christen haben zwei bemerkenswerte Bewegungen mit einem außerordentlichen Inhalt initiiert haben:
Die Christliche Friedenskonferenz (CFK) ist mit dem Namen des evangelischen Theologieprofessoren Hromadka, aber auch von vielen anderen Theologen aus Deutschland (Vogel, Iwand) und auch aus anderen Ländern verbunden. CFK ist in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahren entstanden, ursprünglich als eine Plattform des Dialoges der Christen über den Zaun hinaus. Später wurde sie auch ein wichtiger Punkt für den inneren deutschen Dialog und für den Wiederaufbau der Kontakte, die durch den Krieg unterbrochen waren, aber bald gewann sie auch einen breiteren Einfluß bis in die Dritte Welt hinaus. Selbstverständlich, das Regime hat versucht, diese Bewegung politisch zu instrumentalisieren, was ihm teilweise gelungen ist (wie es auf der anderen Seite z.B. in Polen war, wo die Kirche bei der Demontage des Sozialismus politisch engagiert wurde), und nach dem Jahre 1968 wurde der Raum weiterhin deutlich beschränkt, die CFK verlor in Osteuropa an der Bedeutung und nach dem Jahr 1989 ist sie praktisch ausgelöst.
Ein anderes Phänomen war der Dialog der Marxisten und der Christen. Zwar hatte er einen internationalen Einfluß, es war unter anderem eine Reaktion auf die Reformen der katholischen Kirche nach dem zweiten vatikanischen Konzil und auf die Bemühungen des Sozialismus, den Stalinismus zu überwinden, aber gleichzeitig war er etwas typisch tschechisches. Der vor kurzem verstorbene Professor Milan Machovec, einer der marxistischen Väter dieser Bewegung, stand in der tschechischen Tradition der undogmatischen Wahrheitssucher, die auch auf eigene Kosten ihrer Überzeugung treu bleiben. Auch diesem Phänomen wurde eine natürliche Entwicklung nicht gewünscht – der Dialog wurde durch die sowietischen Tanks unterbrochen.
Die Zeit der Normalisierung, die 70er und 80er, waren eine Zeit des kulturellen und politischen Vakuums. Die Kirchen, die schon nicht mehr so hart wie in den fünfziger Jahren verfolgt wurden, haben mehr und mehr die Rolle einer Plattform für die Oppositionsströme gespielt. Für die katholische Kirche war auch bei uns außerordentlich wichtig die Wahl von Karol Wojtyla zum Papst. Auf keinen Fall kann man aber ihren politische Einfluß und vor allem die Verbindung mit den Arbeiter mit der Lage in Polen vergleichen.
In der Tschechoslowakei hat aber eine große Gruppe der Priester in der Illegalität gewirkt, in der sog. Untergrund-Kirche, und die hat einen bemerkenswerten alternativen Typ der Frömmigkeit und der Kirchenordnung entwickelt, der oft die eingeübte Ordnungen überschritten hat – z.B. wirkten hier verheiratete Priester, wahrscheinlich wurden auch Frauen als Priester geweiht. Charakteristisch ist dabei, daß in dem neuen Raum der Freiheit die Kirche nicht mehr wußte, was sie mit diesen freiheitsliebenden Priestern tun soll. Sie war nicht imstande, eine Reihe von denen, die unter dem ehemaligen Regime mit persönlichem Risiko gewirkt haben, in ihre Strukturen zu integrieren.
Die achtziger Jahre ermöglichten einer Reihe Menschen, in Kontakt mit der Religion zu kommen; und im Laufe der gesellschaftlichen Veränderungen am Anfang der 90er herrschten große Sympathien und große Erwartungen der Kirche gegenüber. Aus vielen Gründen sind diese Sympathien aber verschwunden, und die Erwartungen wurden enttäuscht. Im Jahre 1992 hatten zu einem der christlichen Bekenntnisse mehr als die Hälfte der Bevölkerung gemeldet, zehn Jahre später war es kaum ein Drittel.
Von der Seite der Gesellschaft waren die Erwartungen bestimmt zu hoch. Auch die katholische Kirche, die ungefähr zehnmal so groß wie alle andere Kirchen insgesamt ist, hatte nach Jahrzehnten der Verfolgung und Beschränkung der Tätigkeit nicht die Kapazität, um Sozial-, Kultur- und Bildungsaufgaben in dem Maße zu übernehmen, wie es gewollt war. Zwar erfüllte die Kirche alle diese Aufgaben, aber in einem relativ bescheidender Maße, das ihren Möglichkeiten entspricht.
Manche haben nach dem Jahre 1989 unter anderem erwartet, daß die „christlichen Werte„, unter denen sie sich eine Vorkriegsmoral der mittleren Stände vorgestellt haben, das Vakuum ausfüllen würde, das hier nach dem Fall der kommunistischen Ideologie entstanden war. Sehr schnell hat sich aber die Ideologie des Liberalismus durchgesetzt, die dem tschechischen Pragmatismus entspricht, die aber von den aggressiven ökonomischen Interessen der neuen Eliten gespeist wird: Der Markt löst alles, alles kann man kaufen und verkaufen. Diese Ideologie tut so, als ob sie keine Ideologie wäre, weil sie wohl doch ein Ausdruck der Gesetze der Natur sei das ist ungefähr das gleiche wie die „Gesetze der Geschichte„ der Marxisten, was die Bezeichnung „Markt-Bolschewiken„ treffend zum Ausdruckt bringt.
Die Kirchen orientieren sich meiner Meinung nach in der neuen Lage nicht richtig und schweben zwischen der Loyalität zu der neuen Macht, von der sie aber ökonomisch abhängig sind, und der moralisierenden Kritik des mehrheitlichen heutigen Lebensstils. Es fehlt ihnen der Mut zu einem kritischen und prophetischen Bekenntnis im Interesse der breiten Schichten der Bevölkerung, die von der negativen Auswirkungen der gesellschaftlichen Reformen betroffen sind, oder im Interesse des Friedens.
So ignorieren die tschechischen Katholiken ebenso wie die Protestanten die Aufrufe des Papstes oder des Weltrates der Kirchen gegen den Krieg, genauso wie die Tätigkeit aller Bewegungen, die sich um ein humanes Gesicht der Globalisierung bemühen. Dazu kommt noch die traditionelle Kirchenfeindlichkeit der Medien, und so bekommt der durchschnittliche tschechische Bürger von den Kirchen erst dann etwas mit, wenn es um die Ansprüche der katholischen Kirche auf die Rückgabe der kirchlichen Güter geht oder bei den parlamentarischen Kämpfen um die Möglichkeit der Partnerschaft der gleichgeschlechtlichen Paare, wobei die kirchlich orientierten Abgeordneten die Annahme des Gesetzes blockieren, oder um die Abtreibungen, wo sie versuchen, das bisherige liberale Gesetz strenger zu regeln.
Dabei ist aber anzumerken, daß in beiden Fällen (und in der Haltung zur Sexualität) die tschechische Gesellschaft schon traditionell sehr liberal ist. Die Tschechoslowakei war einer der ersten Staaten der Welt, wo die Homosexualität nicht mehr bestraft wurde, wo Frauen und Männer vor dem Gesetz gleichberechtigt wurden, wo Frauen zu Geistlichen wurden, wo die Frauen über ihre Schwangerschaft selbst bestimmen durften, usw. Dabei sinkt weiterhin die Zahl der Abtreibungen nach dem Jahre 1989, dank der Aufklärung und der Zugänglichkeit der Antikonzeption.
Weiterhin sinkt aber auch die Interesse an den Kirchen. Ich meine, daß es in einem bestimmten Maße eine natürliche Reaktion darauf ist, daß sich die Kirchen umgekehrt für die realen Probleme heutigen Menschen und der heutigen Welt wenig interessieren. Das muß aber nicht bedeuten, daß gleichzeitig die Interesse für die Religion sinkt. Zum Schluß möchte ich also noch einige Bemerkungen zu Beobachtungen der nicht-christlichen religiösen Strömungen hinzufügen.
Das Judentum hatte in Tschechien schon immer in der Geschichte einen wichtigen Platz, auch wenn es immer so verschlossen war, aber vielleicht wurde es nicht so arg verfolgt wie in den anderen Ländern. Die Bedeutung der Prager oder auch der mährischen jüdischen Kommunität reichte über die Landesgrenzen. Typisch ist dabei, daß der moderne Judaismus allerdings zu der liberalen Strömung gehörte. In Böhmen hat er sich in der sich modernisierenden Gesellschaft assimiliert – meistens in die deutsche Kultur hinein, und gleichzeitig hat er sich säkularisiert. Dabei beunruhigt und inspiriert z.B. das anscheinend areligiöse Werk von Franz Kafka das theologische Denken bis heute.
Auf der anderen Seite, schon zwischen den Weltkriegen, entdeckte Jiri Langer für die Tschechen die Tiefe und den Zauber der Chassiden. Das Zusammenleben der Kulturen war sehr fruchtbar, auch wenn sie sich nicht arg gemischt haben, vielleicht gerade deshalb. Der Nazismus hat damit und praktisch mit der ganzen jüdischen Kultur und Religion in Tschechien Schluß gemacht – nach dem Krieg ist hier aus der jüdischen Bevölkerung nur jeder zehnte geblieben, und die Erneuerung des religiösen Lebens ist nur in einigen großen Städten gelungen. Die kommunistischen Regierungen unterdrückten die religiösen genauso wie alle andere Aktivitäten. Nach dem Jahre 1989 kommt es zu einer erfreulichen Renaissance des Judentums. Der Prager Rabbi Karol Sidon, ein bedeutsamer Schriftsteller, ist eine allgemein bekannte Persönlichkeit, obwohl er zu der orthodoxen Richtung gehört. Das Interesse der Öffentlichkeit an der jüdischen Kultur und Religion ist groß, und es gibt auch Konversionen zum Judaismus.
Der Islam spielt bis jetzt nur eine kleine Rolle. Nach dem Jahre 1989 sind ein paar moslemischen Gemeinden entstanden – in der Mehrheit gegen den Widerstand der Kirchen vor Ort. Und das trotz der Tatsache, daß die Kontakte mit der islamischen Kultur dank der lebhaften wirtschaftlichen Beziehungen traditionell sehr lebendig waren. Zugänglich ist die Grundliteratur, schon vor der Wende ist eine qualitätsvolle Übersetzung des Koran erschienen. Die Zahl der Immigranten aus den moslemischen Ländern ist gering. Der Islam ist für die nüchternen und undisziplinierten Tschechen nicht anziehend. Bemerkenswert ist, daß Tschechien eine Weltmacht im Bereich Ägyptologie ist. Es sieht so aus, als ob das alte Ägypten interessanter ist als heutige.
Eine bedeutsame Rolle spielten im tschechischen Mikrokosmos im 20. Jh. die geheimnisvollen östlichen Lehren, wenn wir das so pejorativ sagen würden. Aber auf einem seriösen Niveau waren z.B. die Beziehungen zu Indien und zur dortigen Kultur. Die tschechische Gesellschaft hat z.B. mit großen Sympathien den Kampf von Mahatma Ghandi beobachtet. Der Buddhismus in der Überlieferung des Religionisten Vincenc Lesny oder des Philosophen Zbynek Fischer und der Hinduismus bei Boris Merhaut oder Dusan Zbavitel und weiteren fanden Anklang in einer relativ breiten Öffentlichkeit. In den 60er Jahren kam es zu einer Popularisierung des Joga – äußerlich wurde es als Mittel für die Verbesserung der körperlichen Kondition wahrgenommen, aber immer mehr ging es um einen Weg zu einer religiösen Erfahrung.
Weniger groß (wegen der Sache selbst) war das Interesse für den Zen-Buddhismus, aber in einer instanten Form ist er nach und nach ein Teil der religiösen Subkultur geworden. Das Aufschließen der Gesellschaft nach dem Jahr 1989 vervielfachte das Angebot für eine relativ breite Schicht der Jugend – ob als irgendeine Modepose oder in Form eines tieferen und längeren Interesses. In der toleranten tschechischen Gesellschaft haben auch solche exotische Phänomene wie die Verehrer von Krisna Anklang und Sympathie gefunden mit ihrer ökologischen Farm und dem Verkauf von vegetarischer Kost.
Diese Richtungen durchsickern die Gesellschaft als unbestimmte Mischung der neuen Religionen, die manchmal New Age genannt werden und die bei uns sehr populär sind. Es hängt meiner Meinung nach mit dem großen Anklang der Jugendkultur der 60er Jahre zusammen, die eigentlich diesen Typ der Religiosität produziert hat. Den Film „Hair„, der so gut die Atmosphäre der damaligen Zeit zum Ausdruck bringt, hat der tschechische Regisseur Forman gedreht. Als nach der Wende Frank Zappa nach Prag kam, erlebte er auf die alten Tage auf dem Flughafen ein Willkommen wie nie vorher. Der ehemalige tschechische Präsident Havel ist mit den Rolling Stones persönlich befreundet.
Einen bestimmten Zusammenhang sehe ich auch in der liberalen Haltung zu Drogen, die in der Gesellschaft herrscht. Wir haben nicht nur den größten Bierverbrauch der Welt, in der letzten Zeit ist unter der Jugend die Konsumtion von Marihuana und von anderen Drogen ganz geläufig. Es ist gut bekannt, daß die Drogen als ein Auslöser oder ein chemischer Ersatz der religiösen Erfahrung wirken können. Auf dieses Phänomen im Zusammenhang mit Alkohol hat schon William James in seiner klassischen Arbeit „Die Arten der religiösen Erfahrung„ aufmerksam gemacht. Später haben Huxley, Leary und andere von diesem Gesichtspunkt aus die halluzinogenen Drogen untersucht.
In der tschechischen Kultur gibt es oft eine Verbindung zwischen Alkohol und Kunstschaffen – bei Hašek, Hrabal und vielen anderen. Ich erlaube mir eine Hypothese vorzulegen, daß es zwischen der geringen Religiosität und dem hohen Verbrauch von Drogen einen Zusammenhang geben kann. Aber auch der typisch tschechische Humor und ein Sinn für Absurdität bietet eine bestimmte Auseinandersetzung mit der existenziellen Not, auf die sonst geläufig die Religion die Antwort gibt.
Es wächst eine Interesse an den Naturreligionen – indianischem oder sibirischem Schamanismus oder auch anderen Richtungen, die intensive Erlebnisse versprechen, wie die Magie, Tantra o.ä. Es ist mir ein Terminus eingefallen: Adrenalinreligionen. Ein besonderes Kapitel ist die Belebung der keltischen Traditionen, die bestimmt etwas mit der Identität zu tun hat. Die tschechische Kesselvertiefung wurde vor der großen Völkerwanderung von den Kelten besiedelt, es gibt hier zahlreiche Merkmale nach ihnen. Viele Tschechen bestehen darauf, daß wir eigentlich mehr Kelten als Slawen sind – und es kommt zum Ausdruck vielleicht auch in der Entwicklung guter Beziehungen mit Irland.
Sehr verbreitet ist die Astrologie, ich glaube, daß sie mit ihrem Zusatz von Pragmatismus und Irrationalität dem Naturell gut entspricht. Sogar ein ehemaliger Verteidigungsminister verdient seine Brötchen als Astrologe (das ist für mich eine etwas erschreckende Vorstellung). Bestimmte Konotationen mit der Religion gibt es auch bei dem vegetarischen Lebensstil, er ist meistens eine Frage der ethischen Entscheidung und gestaltet eine alternative Kultur. Interessant ist in Tschechien auch die neue Teekultur – ein Phänomen, das nirgendwo anders eine Ähnlichkeit hat: Es sind unzählige Teehäuser entstanden, wo oft exotische Literatur und ähnliche Artikel verkauft und Kulturprogramme angeboten werden. Ich mische jetzt alles zusammen, aber es sieht wirklich so aus: Ein großer Markt der Lebenshaltungen, Praktiken und Ausdrucksweisen. Die Anhänger dieser Strömungen bleiben in der Regel auch nicht nur bei einem, sondern sie kombinieren die Zugänge und schweben dazwischen.
Die extreme Sekten wie Satanismus, Scientologie, Moon, u.a., die am Anfang der 90er Jahre versucht haben, auf den tschechischen Markt durchzudringen, haben keinen großen Erfolgt gehabt. Ab und zu beleben den Spiegelbogen irgendwelche Spinner – Neulich habe ich eine Mail bekommen, daß sich am 28. Oktober 2003 (Jahrestag der Gründung der Tschechoslowakei) auf der Prager Burg Gott offenbaren wird (ich habe nichts davon gemerkt).
Dann gibt es hier noch ein anderes Gebiet, es heißt civil religion, Bürgerreligion. Es wird damit gemeint, daß die religiösen Aspekte auch in der Politik, in Sport und in anderen Lebensbereichen zu Wort kommen. Es war z.B. nicht schwierig, die Ähnlichkeiten der religiösen Rituale im politischen Leben der kommunistischen Länder festzustellen.
Für die Tschechen bekommt die Politik einen religiösen oder unbedingten Charakter nur in Ausnahmsituationen. Dann gehen die Menschen auf die Straßen, für die Wahrheit oder etwas ähnliches zu kämpfen. In der Regel muß die Jahreszahl mit einer 8 enden: 1918, 1948, 1968. Das Jahr 1989 ist eine Ausnahme, da waren wir ein Jahr zu spät daran, weil wir gewartet haben, bis die Wende in der ehemaligen DDR kommt.
In anderen Jahren erweckt solche Gefühle nur der Sport. Aber wahrscheinlich nur große Weltkämpfe. Das hat viel mit der Identität zu tun. Das Erlebnis des Sieges bringt das Gefühl: Wir sind gut, auch wenn wir so klein sind (wenn man verliert, dann bedeutet es umgekehrt: wieder mal die Ungerechtigkeit!). Die religiöse Konotationen fließen aus dem Unterbewußtsein manchmal an die Oberfläche: Nach dem phänomenalen Sieg der tschechischen Hockeyisten bei den Olympischen Spielen in Nagano lobte die Menge auf dem Altstädter Ring den besten Torhüter der Welt mit dem Schrei: „Hašek ist Gott!„ Viele Christen haben sich darüber geärgert, aber ich meine nicht, daß es um einen Götzendienst ging, sondern daß dabei der größte Superlativ verwendet wurde, der in der Sprache zu Verfügung steht: es ist also Ausdruck eines bestimmten Wissens über die Rolle der Religion.
Auf der anderen Seite habe ich neulich einen deutschen Mann gehört, als er sich darüber ärgerte, daß sich der tschechische Sänger den Namen Karel Gott gewählt hat. Ich mußte ihm erklären, daß er so wirklich heißt und daß es für die Tschechen ein normaler Name ist. Die Tschechen wissen gut, daß weder Karel Gott noch Dominik Hašek oder jemand anderes Götter sind. Sie haben umgekehrt Gefallen am Stürzen der Götter. Zweifellos übertreiben sie das manchmal und schütten mit der Wanne oft auch das Kind aus.