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Mittelosteuropa: Transformationen, Identitäten und Herausforderungen

9. 10. 2009 - Jiří Silný

Perspektive/Identität

Wo liegt Tschechien? Die Tschechoslowakei lag vor der Wende im „Osten“, nach der Wende wurde sie ein Teil von „Central and Eastern Europe“ („CEE countries“), eines der „Mittel-Osteuropäischen Länder“. Das ist eine höflichere Alternative zu “postkommunistische Länder” und schließt auch die postsowjetischen Länder, aber nicht Russland ein. Die Tschechen verstehen sich natürlich seit jeher als die Mitte (oder romantisch: als Herz) Europas.
Es gibt seit ein paar Jahren die „Mitteleuropäische Initiative“ zu der schon fast 15 Staaten gehören. Sie macht wenig Sinn. Ein kleines „Mitteleuropa“ könnten die Staaten der „Visegrader Vier“ sein (Tschechien, Polen, Ungaren und Slowakei), wenn sie sich gegenseitig etwas mehr mögen würden. Es gibt dann natürlich die Zugehörigkeit zu den „New Member States“ der EU (NMS – auch Malta oder Zypern), aber da es auch schon neuere Mitgliedstaaten gibt (Rumänien und Bulgarien), sind die ehemals NMS jetzt „EU 12“. Der „Ostblock“, die Welt des Sozialismus, eigentlich die „Zweite Welt“, hat sich durch die Wiedereinführung des Kapitalismus geteilt: Manche haben es zur „Ersten Welt“ (EU) gebracht, manche sind in die „Dritte Welt“ zurück gefallen. Also „Globaler Norden“ und „Globaler Süden/Osten“ schien bis vor kurzem die zutreffende Teilung von heute zu sein. Aber die aktuelle Krise wird alles noch einmal verändern. Wer hätte so etwas vor 20 Jahren gedacht? Na ja, es gab schon solche Leute.
Am 18. November 1989 habe ich im Büro vom Professor Urlich Duchrow an der Universität von Heidelberg die TV-Nachrichten von der großen Demonstration in Prag gesehen. Wir waren mit einer kleinen ökumenischen Gruppe aus der Tschechoslowakei dort zu Besuch. Er meinte damals: „Das was jetzt im Osten passiert, rettet den Kapitalismus für die nächsten dreißig Jahre.“ „Worüber redet er denn?“, habe ich damals gedacht. Jetzt scheint mir, dass ich besser verstehe, was er meinte.
Dagegen hat sich der berühmte Politologe Francis Fukuyama damals mächtig geirrt, als er behauptete, dass die Menschheit durch den Sieg der westlichen Demokratie und der kapitalistischen Markwirtschaft am Ende der Geschichte angelangt sei. Er hat seinen Irrtum bald danach korrigiert.
Aber es war meiner Meinung nach gerade diese Art ideologischer Verblendung, in der viele unserer Politiker immer noch leben, die aus den letzten zwanzig Jahren die Periode der vertanen Chancen, der verlorenen kostbaren Zeit, die uns möglicherweise fehlen wird, gemacht hat. Mit uns meine ich jetzt nicht nur die Tschechen oder die Mitteleuropäer, sondern die Menschheit insgesamt angesichts der systemischen ökonomischen und ökologischen Krise von heute. Es wird kein leichter Weg für die existentiell notwendige Wende der planetaren Zivilisation in Richtung Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit.
Ich werde versuchen, aus der angedeuteten Perspektive die so genannte Transformation zu beschreiben und zu charakterisieren, um die heutigen Herausforderungen zu verdeutlichen.

Die Samtene Revolution

Warum kam es zur Samtenen Revolution, der „Wende“ in der Tschechoslowakei? Im Nachhinein scheint es so klar, dass der Staatssozialismus zusammenbrach. Nur hat es sonderbarerweise fast keiner vorausgesagt. Praktisch waren alle überrascht. Pläne und Modelle für den Umbau gab es keine. Jetzt erleben wir eine analoge Ratlosigkeit in einer viel gefährlicheren Situation des Zusammenspiels vieler Krisen, die immer mehr einer Systemkrise ähneln.
Der Staatssozialismus hatte zwei wesentliche Mängel: Erstens die schwache Effektivität der Wirtschaft, die einerseits dem Rüstungswettlauf und andererseits der Systemkonkurrenz im Konsumgüterverbrauch und in der Entwicklung der Informationstechnologien nicht standhalten konnte. Und zweitens und entscheidend: die wesentliche Beschränkung der Freiheit seiner Bürger. Beide Mängel hingen mit dem Bemühen um ideologische Kontrolle über die ganze Gesellschaft zusammen. Nach der Unterdrückung der Aufstände und Reformbemühungen versuchten einige Länder, den Unmut in der Bevölkerung mit besserer Versorgung (so genanntem Gulaschsozialismus) aufzufangen. Das war jedoch nur unter Inkaufnahme einer Verschuldung möglich. In Ländern wie Ungaren und Polen liefen hohe Auslandschulden des Staates auf, in der Tschechoslowakei gab es innere Schulden auf Kosten der Umwelt, der Infrastruktur und der Modernisierung der Wirtschaft. Rumänien hatte seine Auslandschulden um den hohen Preis der massiven Verarmung der Bevölkerung unter einer schlimmen Diktatur beglichen.
Die Wirtschaftslage war freilich nicht der unmittelbare Grund des Zusammenbruchs. Keines dieser Länder war pleite im technischen Sinne, zahlungsunfähig, wie es heutzutage mehrere europäische Länder geworden sind und wie es real den Vereinigten Staaten droht. Auch die relative und absolute Armut war niedriger als es heute der Fall ist, das Wohlstandsgefälle, die sozialen Unterschiede in der Gesellschaft waren wesentlich geringer, es gab praktisch keine Arbeitslose, kaum Obdachlose, die sozialen Systeme waren auf einem gemäßigten Niveau flächendeckend.
Aber selbst die Führungsschichten haben keine Vision für die Zukunft gehabt und so verschwand die letzte Legitimation des Systems. In dieser Situation bekamen symbolische Gesten der Überwindung von Angst und das Einfordern von Bürgerrechten eine einigende Kraft, die sehr schnell den vorhandenen Unmut der Bevölkerung mobilisierte.
In der Tschechoslowakei war der Wendepunkt die Polizeigewalt gegen Studierende, die am 17. November, dem Weltstudententag, in Prag demonstrierten. Der Weltstudententag wurde nach dem zweiten Weltkrieg zur Erinnerung an die Verfolgung der tschechischen Studierenden in der Nazizeit ausgerufen. Die Tatsache, dass die kommunistische Polizei gerade an diesem Tag die Studierenden “wie die Nazis” geschlagen hatte, brachte in den nächsten Tagen hunderttausende Menschen auf die Straßen. Nach einer Woche, die mit Generalstreik endete, kapitulierte das Regime, ohne das es noch von der einen oder anderen Seite zu Gewalt kam. Die Gefahr eines Armeeansatzes bestand allerdings. Eine interessante Hypothese besagt, dass er durch den Druck aus Gorbatschows Moskau verhindert wurde. Immerhin war die sowjetische Armee im Lande massiv präsent. Auch eine der geschichtlichen Absurditäten.
Im tschechischen Kontext spricht man über die Revolution des Jahres 1989 – ähnlich dem Aufstand gegen die faschistische Besatzung im Mai 1945 – als einer demokratischen Umwälzung.

Transformation: „one size fits all“ versus demokratischer Sozialismus und öko-soziale Marktwirtschaft

Um die Lage der Mittelosteuropäischen Länder in der Krise zu verstehen, ist es notwendig sich die Ergebnisse der Transformation zu vergegenwärtigen.
Allgemein spricht man von gesellschaftlicher Transformation in eine demokratische und marktwirtschaftliche Ordnung. Die Transformation war ein chaotischer Prozess, einerseits weil, wie gesagt, der Zusammenbruch unerwartet kam, andererseits weil eine derart schnelle und grundlegende Umwälzung der Eigentumsverhältnisse und der politischen Strukturen in dem riesigen geographischen Gebiet und der großen Vielfalt der staatsozialistischen Länder historisch beispiellos war. Regionale Zerfallsprozesse (Sowjetunion, Jugoslawien, Tschechoslowakei, Warschauer Pakt, RGW) verliefen parallel zu neuen Integrationen (NATO, EU, OECD, Weltbank und Internationaler Währungsfonds, WTO).
In der Tschechoslowakei war die Samtene Revolution – bald auch spöttisch Plüsch Revolution genannt – eher ein demokratisches als ein pro-kapitalistisches Projekt. Man sehnte sich nach Freiheit und Wohlstand – also etwa nach dem Modell der sozialen und ökologischen Marktwirtschaft. In seiner großen programmatischen Rede als Präsident Anfang 1990 sprach Václav Havel über eine gerechte Gesellschaft, in der es keine Privilegierten geben wird, ganz im Sinne der Ideen eines demokratischen Sozialismus. Diese Ideen waren allgemein akzeptiert. Aber die Zeiten änderten sich schnell. Entscheidend für die Transformation waren nicht die Vorstellungen der Bevölkerung, sondern die Strukturanpassung nach dem Muster des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der einheimischen „Marktbolschewisten“ beispielsweise eines Václav Klaus. Das lief auf den bekannten neoliberalen Mix aus Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung hinaus. Genau dieses Modell führte uns in die aktuelle Krise – und wieder müssen die Länder, die IWF-Kredite brauchen, um überhaupt funktionieren zu können, diesen Maßnahme-Cocktail als Kreditbedingungen akzeptieren.

Transformation und Korruption

Ähnlich wie die Marxisten betonen auch die Neoliberalen die Bedeutung des Eigentums. Deshalb war und ist die Privatisierung so wichtig. Unter den fehlenden gesetzlichen Rahmenbedingungen führte die schnelle, zwanghafte Privatisierung zu einer märchenhaften Bereicherung weniger. Das waren teils ehemalige kommunistische Manager und zum Teil ausländische “Investoren”. Im Tschechien der neunziger Jahre schätzte man nüchtern die Verluste durch Privatisierungsbetrug auf 40 Milliarden €. Dazu kommen die „rechtmäßigen“ Verluste, weil zu billig verkauft wurde. Die Versuche, auch die restlichen öffentlichen Dienste (Schulwesen, medizinische Versorgung und Rentensystem) zu privatisieren, konnten in Tschechien nur mit Mühe durch den Sturz der Regierung Topolanek verhindert werden.
Transparency International zeigt, wie die Privatisierung Korruption begünstigte: Seit dem Jahre 1980 verkaufte die öffentliche Hand weltweit mehr als 100.000 große Firmen und nochmal so viele kleinere Betriebe für etwa 700 Milliarden USD, was nur ein Bruchteil ihres Wertes ausmacht. In den postsozialistischen Ländern wurden viele Betriebe praktisch verschenkt. Dieser Prozess erhöhte gleichzeitig Korruption und soziale Ungleichheit in der Gesellschaft. Einmal entstanden und genährt, plagen Korruption und Klientelismus die Gesellschaft bis heute auf allen Ebenen. Der damalige Präsident Václav Havel bezeichnete schon in den Neunzigern den erreichten Zustand als “Mafia-Kapitalismus” und auch in diesem Jahr hat er seine Kritik wiederholt – sonderbar inkonsequent, denn während seiner Amtszeit hat er wenig dagegen getan.

Beispiellose sozialpsychologische und sozialmedizinische Folgen der Transformation

Eine Untersuchung, die in der englischen Medizinzeitschrift The Lanzet im Januar 2009 erschien, zeigte, das infolge der Massenprivatisierung in den postsozialistischen Ländern die Mortalität der erwachsenen Männer um 12,8 % stieg. In absoluten Zahlen heißt das: eine Million Männer. Nur dort wo es ein hohes Sozialkapital gab (mehr als 45 % der Bevölkerung sind Mitglieder in Gewerkschaften, Kirchen und anderen gesellschaftlichen Organisationen), gab es diese Korrelation nicht.
Zusätzlich hatte der Zusammenbruch der Gesundheitssysteme in vielen postsozialistischen Ländern für Gesundheitszustand und Mortalität fatale Folgen.
Auch andere Daten zeigen, dass die Kosten der Transformation enorm waren: Überall gab es einen Rückgang des Pro-Kopf Einkommens und des Bruttosozialproduktes, teilweise sehr dramatisch, ohne historische Parallele und schlimmer als im Krieg. Und mehrere Länder haben es in den zwanzig Jahren nicht geschafft aufzuholen. Umso schlimmer werden sie nun von der aktuellen Krise heimgesucht.

Transformation in Tschechien

Tschechien und ein paar andere mitteleuropäische Länder erlebten vor der aktuellen Krise einen wirtschaftlichen Aufschwung, der unter anderem auch mit dem Beitritt in die EU zusammenhing. Das Land gilt als eines der Beispiele für eine erfolgreiche Transformation. Nach außen zeigt sich Tschechien heute als ein neoliberales, pro-amerikanisches, euro-skeptisches Land, was allerdings die Meinung der Bevölkerung wenig repräsentiert. Es ist vielmehr das Bild, das die in den letzten Jahren regierenden Eliten vermitteln. In Tschechien und analog wohl auch anderswo ist eine Gesellschaft entstanden, in der die Gewinner vor allem die fähigen (manchmal zu allem fähigen) weißen Männer im produktiven Alter in den Metropolen sind. Es gibt große regionale Unterschiede und es gibt ganze Schichten, die von den positiven Veränderungen im Bereich der politischen Rechte und Freiheiten und des wirtschaftlichen Aufschwungs kaum profitieren können. In Tschechien ist das vor allem die Roma-Minderheit (etwa 300-400.000Menschen), die ausgeschlossen, diskriminiert und nicht genügend vor rechter Gewalt geschützt wird. Tschechien war das letzte EU-Land, in dem die Anti-Diskriminierungs-Richtlinie der EU erst vor kurzem in nationales Recht umgesetzt wurde. Die proklamierte Gleichstellung der Geschlechter ist jedoch ökonomisch und politisch nicht umgesetzt. Ein anderes Beispiel für eine Transformationsbilanz: In Tschechien wird im EU-Vergleich pro Kopf das meiste C02 emittiert, ohne dass es ein entsprechendes politisches Verantwortungsbewusstsein gäbe.
Die wenig kompetente, dafür aber arrogante Regierung Topolanek hat im Herbst 2008 nach dem Ausbruch der Krise ein Budget für 2009 mit einem über 4-prozentigen Wachstum des Bruttosozialprodukts verabschiedet. Sie behauptete, dass uns die Krise nicht betreffe. Nun zeigt sich, dass der Irrtum eigentlich gering war: nur das Minuszeichen fehlte. So eine Regierung tut sich schwer mit Krisenmanagement – und wurde zu Recht gestürzt. Leider kam es zunächst nur zu einer Interimsregierung und erst im Frühjahr 2010 wird neu gewählt. Zwanzig Jahr nach der Wende ist die Lage der Gesellschaft sonderbar ähnlich unbefriedigend wie im alten Regime.
Im vorigen Jahr haben zum ersten Male nach der Wende ganz verschiedene Gruppen gegen die Regierungspolitik protestiert: Neben Gewerkschaften und den Gegnern des geplanten amerikanischen Militärstützpunktes auch solche, die vorher loyal zu den liberalen Reformen waren wie Ärzte und Ärztinnen, Studierende, Hochschullehrerinnen und –lehrer und Künstlerinnen und Künstler. Tschechien hat im Juni 2008 auch zum ersten Male seit der Wende einen Generalstreik erlebt und aktuell gibt es eine Regierungs- und Verfassungskrise. Andere Länder der Region erleben freilich noch viel schlimmere Zeiten mit riesigen wirtschaftlichen Problemen und entsprechenden politischen Krisenerscheinungen wie z.B. dem Anstieg der rechtsradikalen nationalistischen Kräfte. Die gibt es inzwischen auch in Tschechien – bisher jedoch marginal.

Herausforderungen

Das Gefährliche ist, dass die Erfahrung der letzten zwanzig Jahre in vieler Hinsicht eine schlechte Vorbereitung für die kommenden globalen wirtschaftlichen und ökologischen Probleme darstellen. Die Gesellschaften sind durch entgegensetzte Interessen, die man ruhig als Klasseninteressen bezeichnen kann, tief gespalten, ohne aber effektive Mittel zur Konsensbildung zur Verfügung zu haben. Das Vertrauen in Demokratie und in Politik ist erschüttert, weil formale politische Demokratie gegen die Macht der partikulären privaten Wirtschaftsinteressen versagt. Die Bereitschaft, freiwillig Opfer zu tragen, ist aufgebraucht und die allgemeine Frustration ist hoch. Fast überflüssig festzustellen, dass es auch kaum politische Kräfte mit einem klaren Programm oder einer Vision für die Zukunft gibt.
Aber zuerst geht es darum, den Raum für ein würdiges Leben so offen und so aufnahmefähig wie möglich zu halten, die notwendigste Regulierung durchzusetzen und einen grundsätzlichen öffentlichen Diskurs über die Zukunft unserer Zivilisation zu initiieren oder wenigstens zu ermöglichen. Im tschechischen Kontext könnte das die geschichtliche Aufgabe der Sozialdemokratie sein. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sie dem gewachsen ist.
Mir bleibt auch die Hoffnung, dass sich die unterschwelligen Prozesse der Selbstheilung in den Gesellschaften durchsetzen – ähnlich wie vor zwanzig Jahren und in Tschechien auch vor vierzig Jahren – und dass es diesmal auch entsprechende institutionelle Formen annimmt. Dazu bietet die Krise eine Gelegenheit, weil vieles in Bewegung gerät. In einer solchen Situation können auch schwache Kräfte die Entwicklung beeinflussen. Es wird aber sicher nicht ohne intensives Bemühen von unten passieren. Die Rolle der zivilgesellschaftlichen Akteure einschließlich Kirchen ist dabei sehr wichtig, vielleicht entscheidend.




 

 
 
 
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